Rechtlicher Hinweis:
Dieser Artikel wurde zu Lebzeiten Fredo Marvellis als Serie unter anderem in der "Berliner Zeitung" und der "Hannoverschen Zeitung" abgedruckt. Der Inhaber der Urheberrechte liess sich trotz Nachforschungen nicht mehr ermitteln. Wir gehen bis auf Widerruf davon aus, dass die Veröffentlichung im Sinne des Autors
ist und bedanken uns auf diesem Wege!
 
 

Marvelli – Zauberer im Frack

Mühsal und Glanz im Leben eines großen Artisten

Von ALEXANDER WARTENBERG

Einen Gruß an die Berliner, die sich von mir so gern verzaubern ließen.
Ich freue mich, daß der Rückblick auf mein Artistenleben zuerst in der “Berliner Morgenpost” erscheint.
  Marvelli

I
Es wird dunkel in dem kleinen Konzertsaal. Und plötzlich flammt dort vorn auf der Bühne ein weißer Blitz auf – in dem grellen Schein erkennt man sekundenkurz einen Herrn im Frack, die schlanken Hände leicht erhoben, in der eleganten Haltung, wie er auf Tausenden von Plakaten in ganz Europa zu sehen ist. Schon ist der Blitz wieder erloschen. Aber dann wird es auf einmal strahlend hell im Saal und auf der Bühne.
Wieder ein verblüffender Eindruck: keine Requisiten! Nur ein kleines Tischchen steht nah an der Rampe. Der Herr im Frack aber hat jetzt vier weiße Bälle in der rechten Hand, läßt sie lächelnd in die Luft verschwinden, zaubert sie mit Leichtigkeit wieder hervor und spricht dabei sein Publikum an:
“Meine Damen und Herren, natürlich kann man gar nicht zaubern! Man kann nur täuschen. So vieles im Leben ist Täuschung – Was ich Ihnen zeigen möchte, das ist Täuschungskunst. Wenn Sie genau aufpassen, müssen Sie mich erwischen, denn das alles ist natürlich ganz einfach!”
Weiß der Himmel, was die Damen in ihren Abendkleidern und die Herren im Frack und Smoking von diesem Abend erwartet haben! Sie wissen – vor ihnen steht Europas berühmtester Zauberer, der auf zwei Weltkongressen der Zauberer den Magischen Ring gewonnen hat – ein Artist erster Klasse. Aber ist das überhaupt Zauberei? Er trägt keinen weiten chinesischen Rock, in dem sich so viel verstecken läßt, es fehlen, die vielen Schränke, Truhen, Tische, Vorhänge und Koffer der Magier alten Stils, und ebenso wenig ist ein Assistent auf der Bühne zu erblicken. Will Marvelli allein da vorn zwei Stunden lang dem Publikum etwas vorzaubern? Genau das will er. Und er wird aus einem blasierten und etwas mißtrauischen Publikum mit seinem Geplauder, der immerfort begleitenden leisen Musik und seinen alles Denkbare und Glaubwürdige übersteigenden Tricks schon nach den ersten 20 Minuten eine Art Kindergeburtstagsgesellschaft machen. Ältere Herren mit grauen Schläfen werden sich danach drängen, auf die Bühne zu kommen, um selbst zaubern zu, dürfen. Würdige Damen mit schulterfreiem Kleid werden jubeln wie Zehnjährige im Kindergarten. Aber immer wieder wird die Zuschauer zwischendurch ein unerklärliches, unheimliches Gefühl beschleichen: wie ist das alles möglich – wie kann so etwas überhaupt geschehen!
Es ist ein Programm, so künstlerisch aufgebaut und ausgewogen, wie es kein zweiter Zauberer auf der Erde zeigt. Er narrt, foppt und lockt das Publikum. Er hat ein grünes Seidentuch aus der Luft gegriffen, verschwinden lassen und nimmt es lächelnd einer Dame in der ersten Parkettreihe aus dem Theatertäschchen: “Aber meine Damen und Herren, das war doch so einfach, das mußten Sie doch merken. Passen Sie auf, ich mache es Ihnen noch einmal ganz langsam vor. Hier ist das grüne Tuch! Wo ist es jetzt?”
Ein einziger Aufschrei des Publikums: “Dort, unter Ihrer Frackweste!” Marvelli sieht betroffen an einer Weste hinunter und entdeckt tatsächlich einen grünen Zipfel. Er zieht ihn mit spitzen Fingern hervor – und siehe da, es ist ein winziges Stück Seide, so groß wie ein Daumennagel. Gelächter braust durch den Saal – und im gleichen Augenblick bittet er einen Herrn, der nicht weit von ihm sitzt, und zu dem er jetzt hinübergeht, doch seine Brieftasche zu öffnen.
Es gibt keine Zauberei – aber just in dieser Brieftasche ist das grüne Tuch, das er soeben verschwinden ließ! Er “bezaubert” sein Publikum. Eine sehr süße, zärtliche und wiegende Musik ertönt. Aus der Luft greift sich Marvelli ein Kartenspiel, streicht leicht mit der Hand darüber hin, und schon ist ein wundervoller, riesiger Fächer entstanden. Ein zweites Spiel taucht auf, und die Karten werden hauchleicht über den Fächer des ersten Spiels gestrichen – da steht ein Doppelfächer in seiner Hand. Im nächsten Augenblick, mit einer Schnelligkeit, die an das Wunder grenzt, entfaltetet es sich auf seinem ausgestreckten linken Arm von den Fingerspitzen bis zur Schulter. Und wieder ist das alles blitzschnell verschwunden, und er zeigt sein nächstes Kartenkunststück, er, der größte Kartenkünstler Europas.
Gut – das ist Leichtigkeit, Schwerelosigkeit, Charme und Grazie! Aber dann kommen Augenblicke, wo aus dem Hintergrund eine dunkle und geheimnisvolle Musik dröhnt. – Und dann geschehen Dinge, die durch die tollste Fingerfertigkeit nicht mehr zu erklären sind. Er hält den großen Stab in den Händen – er nimmt die linke Hand, zurück, und der Stab schwebt frei an seiner geöffneten rechten Hand ... Er nimmt auch die rechte Hand zurück, und der Stab schwebt frei in der Luft. Er gehorcht dann langsamen Bewegungen des Magiers, der ihn im freien Raum lenkt, wie er es wünscht.
Was danach noch geschieht, ist nun beinahe gleichgültig. Das Publikum steht im Zauberbann dieses einzigartigen Magiers und Eulenspiegels. Das ist der große Marvelli in seiner Vollendung, wie ihn Millionen von Zuschauern in Berlin wie in Stockholm, in Wien wie in Paris und, Rom oder in Rio und Buenos Aires gesehen haben.
Es ist der Mann, der vor knapp zwei Jahren den Zauberstab für immer aus der Hand gelegt hat und von der Buhne abgetreten ist; er verschwand genau so überraschend, wie er einst gekommen war, um alle anderen Zauberer zu besiegen.
Wo kam er her? Marvelli – ist das ein Italiener oder ein Spanier?
Es ist ein Deutscher aus Schlesien, geboren in einem kleinen Forsthaus und von seinem Vater zum Studium der Theologie bestimmt. Einer, der als junger Mensch vom Zauber der Magie erfaßt wurde und nicht mehr davon loskam! Einer, der das Elternhaus verließ, um in die Ferne und damit in die bitterste Armut der fahrenden Leute zu gehen, der sich Schritt für Schritt seinen Aufstieg erkämpfen mußte, selbst genarrt und gefoppt vom Schicksal – aber der zäh durchhielt, bis sein strahlendes Talent durchbrach und ihn kometengleich empor führte. Marvellis Aufstieg ist die Geschichte eines der letzten ganz großen Artisten Europas.
 

Tief in den Wäldern ...

Der Mann, der die fast vergessene, intime Kunst des Salonzauberns wieder entdecken sollte, der, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, niemals in großen Varietés auftrat, sondern nur in kleinen Kursälen oder Konzertsälen, hatte als junger Mensch ein ganz anderes, aber glühend ersehntes Ziel: Er wollte ein großer Violinvirtuose werden.
Es war ein behagliches Heim, in dem der junge Marvelli aufwuchs. Auf dem riesenhaften Besitz des Fürsten Pleß in Schlesien war der Vater Oberförster. Tief in den Wäldern lag das kleine Forsthaus in idyllischer Einsamkeit. Zahme Rehe kamen zur Fütterung. Der kleine Fritz, der sich später einmal Alfredo und Federico nennen sollte, zog schon früh mit seinem Vater auf die Jagd. Er liebte die Natur, die Wälder, die Tiere.
Abends wurde in der Försterei gute Hausmusik gemacht, und Fritz durfte schon seit langem auf seiner Geige mitspielen. Hier saßen der Lehrer und der Pfarrer zusammen, mit dem Vater vor den Notenpulten, und hinterher ebenso einträchtig am Stammtisch. Hier wurde besprochen, was aus Fritz nun eigentlich werden sollte.
Für die Eltern war es klar: er sollte etwas Besseres werden, sollte einmal die große Stellung einnehmen. Und da sich Fritz gegen den Lehrerberuf sträubte, wollte man ihn Theologe werden lassen.
 

Der Junge taugt zu nichts!

So kam der Zwölfjährige nach Breslau in die düster, ernste und strenge Welt des Fürstbischöflichen Knabenkonvikts auf der Dominsel. In mancher Hinsicht sollte Breslau, die alte schlesische Hauptstadt, einmal die Stadt seines Schicksals werden!
Dem lebensvollen und aufgeweckten Jungen fiel es recht schwer, sich dem Zwang dieser hochberühmten Schule zu fügen. Inzwischen war der erste Weltkrieg ausgebrochen – hier ging das Leben weiter, als sei nichts geschehen. Heimlich bastelte Fritz, kümmerte sich mehr um seine Geige als um seine Schulaufgaben, so daß schließlich der Präfekt einen sehr ernsten Brief an den Vater schrieb. In ihm war so deutlich der Rat ausgesprochen, den Jungen lieber vom Konvikt fortzunehmen, daß der Vater nach Breslau kam und Fritz schweren Herzens gleich mit nach Hause nahm.
Aber auch in den folgenden beiden Jahren war Fritz dann auf dem Gymnasium in Oels kein Erfolg beschieden. Sehr zur Betroffenheit der Eltern stellte es sich heraus, daß der Junge wohl offenbar doch nur für einen praktischen Beruf taugte. Man gab ihn zu einem Dentisten in Oels in die Lehre.
Seltsames Schicksal! Im Vorzimmer dieses Dentisten sollte der junge Marvelli zum erstenmal erkennen, welche eigentümliche Begabung in ihm schlummerte. Was sich später im Berliner Wintergarten, im Beethovensaal und auf den Bühnen der europäischen Hauptstädte so glänzend entfaltete, nahm hier in dem kleinen Warteraum einer schlesischen Provinzstadt seinen Anfang.

 II
Wie eigentlich wird man ein Zauberer? Der junge Marvelli fuhr damals täglich vorn Elternhaus nach der kleinen Stadt Oels, um beim einem Dentisten zu arbeiten. Nachdem der Junge weder auf dem Konvikt in Breslau noch auf dem Gymnasium in Oels recht vorangekommen war, ließ ihn der Vater, zwar schweren Herzens, aber doch kurz entschlossen, einen Brotberuf lernen.

So viele Male war der Achtzehnjährige schon an der Bahnhofsbuchhandlung in Oels vorbeigekommen – aber dann, an einem Herbsttag, blieb er wie fasziniert vor dem Schaufenster stehen. Ein Buchumschlag in leuchtendem Rot und Schwarz war ihm aufgefallen; dort war ein Herr im Frack abgebildet, der mit bezwingend eleganter Geste ein fächerförmig auseinandergezogenes Kartenspiel in der Hand hielt. “Der moderne Kartenkünstler” hieß das Buch – und wie unter einem Zwang kaufte es der junge Marvelli und fing noch in der gleichen Nacht zu lesen und – zu üben an. Selbst die geliebte Geige mußte in den nächsten Monaten hinter der Leidenschaft für das Zaubern zurückstehen. Aber so einfach der Anfang war, so schwer war der Fortschritt – wie jeder Amateurzauberer weiß. Das Wesen des Kartenzauberns ist mühelose Eleganz – und gerade die ist nur durch unablässige Übung zu erreichen. Der junge Marvelli war wie besessen von seinem neuen Steckenpferd; nach und nach schaffte er sich auch Zaubergeräte an. Er übte nicht nur des Nachts in seinem Zimmer, am Tisch und vor dem Spiegel, er übte auch im Wartezimmer des Dentisten, wenn gerade keine Patienten da waren. Selbstverständlich wurde er dabei erwischt und mußte seinem Lehrherrn sowie den Patienten einige Kunststücke vorführen. Sie gelangen dem jungen Amateurzauberer über alle Erwarten gut. Tief im Winter kam ganz unverhofft eine Chance, sich zum erstenmal vor einem größeren Publikum zu produzieren. Ein dicker Zigarrenhändler, der dafür bekannt war, daß er in sämtlichen Festkomitees saß, machte ihm den Vorschlag, doch auf dem großen Heimatabend in den Stadtsälen aufzutreten. Zugunsten der Oberschlesienhilfe veranstaltete Oels damals einen “Bunten Abend” – mit Vortragskünstler, Männerchören, Tanzeinlagen – und er sollte als der “jüngste Zauberer von Oels” glanzvoll angekündigt werden.
Diesem Vorschlag konnte Marvelli nicht widerstehen. Die gute Mutter mußte mit einigem Geld aushelfen – und der Zauberlehrling fuhr nach Breslau, um sich dort in einem Verleih in den ersten Frack seines Lebens zu zwängen. Auch das Frackhemd war nicht billig, und in seiner Ahnungslosigkeit erstand er eine schwarze Schleife statt einer weißen! Aber was wollte das alles noch besagen, als nun der große Abend herangekommen war! Von 6 Uhr nach- mittags an wartete er aufgeregt hinter der Bühne, obwohl sein Auftritt erst gegen 10 Uhr stattfinden sollte. In
Gedanken ging er seine Tricks noch einmal durch und wurde immer nervöser. Als der jüngste Zauberer von Oels endlich die kleine Bühne betrat und zum erstenmal im Rampenlicht und vor einem großen Publikum stand – da hatte ihn bereits das Lampenfieber mit aller Gewalt gepackt. Seine Hände zitterten, und er brachte kaum einen Satz zustande.
Es war ein Auftritt, an den sich das Publikum dieses Abends noch lange und gerne erinnern sollte, Marvelli war noch keine fünf Minuten auf der Bühne, als sich die Leute bereits vor Lachen bogen und nach Luft schnappten. Viele glaubten sogar, des Ganze sei als komische Nummer gedacht. Zuerst entglitt das Kartenspiel seiner Hand, als er es gewandt im Frackschoß verschwinden lassen wollte, dann wollten die farbigen Tücher ihm durchaus nicht den Gefallen tun, in dem (hohlen) Zauberstab zu verschwinden, sondern verklemmten sich derart, daß Marvelli den Stab ratlos hinter die Bühne warf. Und als er nun die berühmten Bälle zwischen den Fingern hielt und sie “eskamotieren”, also wie durch Zauber verschwinden lassen wollte, da rutschten sie ihm heimtückisch aus der Hand und rollten in die Rampenbeleuchtung.
Verzweifelt eilte er hinterher ... Aber dann auf einmal begriff er, daß er hier, gleich am Anfang seiner Laufbahn, den größten Durchfall erlebte, der überhaupt denkbar war. Während das Publikum noch schadenfroh lachend applaudierte, verschwand er tiefbeschämt hinter den Kulissen.
Ein anderer hätte vielleicht das Zaubern jetzt völlig aufgegeben! Aber trotz all der Anspielungen und Neckereien, die der junge Marvelli von nun an im Vorzimmer des Dentisten zu erdulden hatte, blieb er seinem Steckenpferd treu. Nachts, wenn alles ringsum still war und er in seinem kleinen Zimmer wieder vor dem Spiegel übte, dann fühlte er trotz allem ganz stark die Begabung in sich, all diese Tricks einmal so glanzvoll und elegant auszuführen, daß ein verblüfftes und begeistertes Publikum ihm zujubeln mußte. Ja, er wollte Erfolg haben, wollte einmal die Menschen zu Staunen und Bewunderung hinreißen! Und so faßte er denn ganz plötzlich einen folgenschweren Entschluß.
Seit einiger Zeit las er das Fachblatt der Internationalen Artistenloge. In der Märznummer des Jahres 1923 fand er darin eine kleine Anzeige: Das Zirkusunternehmen Welt-Arena in Brandenburg, Direktor Leopold Richter, suchte einen jungen Artisten, der Geige spielen, etwas jonglieren und zaubern konnte. Wie unter einem inneren Zwang schickte Marvelli noch am gleichen Tage ein Bewerbungsschreiben ab.
 

Er wird Artist

Eine Woche später hatte er die Antwort in der Hand: er war engagiert! Natürlich gab es zu Hause eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Vater, der als Beamter von einem solchen Beruf nichts wissen wollte, aber Marvelli war nicht mehr zu halten. In steifem Hut, im Covercoatmantel, mit Spazierstock und Glacéhandschuhen, einen mittelgroßen Koffer in der Hand, so trat er die große Fahrt über Berlin nach Brandenburg in die Freiheit des Artistenlebens an. Er wußte zum Glück nicht, was ihn erwartete! Unter “Richters Welt-Arena” hatte sich Marvelli einen pompösen Zirkusbau vorgestellt, vielleicht nicht ganz so groß wie das Kolosseum in Rom, aber doch immerhin so stattlich wie das Riesenzelt des Zirkus Renz. Als er jedoch in Brandenburg an einem sehr kühlen Aprilmorgen eintraf, war ein solcher Bau nirgends zu erblicken. Den Schutzleuten war nicht einmal die Existenz dieses Unternehmens bekannt. Schließlich gab man ihm den Rat, mit der Straßenbahn hinaus zum Viehmarkt zu fahren, dort hielten sich meistens die Schausteller auf. Doch als der junge “Artist” endlich am Viehmarkt ausstieg, fand er nur einen wüsten und leeren Platz, auf dem, neben einem Stapel Bretter ein einsamer Wohnwagen stand. Ein älterer Mann sägte dort gerade Holz. Auf ihn ging Marvelli zu, lüftete seinen steifen Hut und erkundigte sich höflich, ob hier irgendwo die Welt-Arena zu finden sei.
 

Das hatte er nicht erwartet!

Die Antwort, die er erhielt, wirkte auf ihn so ähnlich wie ein Torpedo. Der Mann richtete sich auf, sah ihn freundlich an und sagte:
“Ach, du bist sicher der aus Oels. Dann bist du richtig, du kannst gleich hier anfangen!”
Nun – Richters waren sehr nette Leute, wie sich noch am gleichen Tage herausstellen sollte, eine uralte deutsche Artistenfamilie, die früher einmal sehr berühmt gewesen war, aber sich jetzt auf dem Abstieg befand. Der alte Richter arbeitete mit Frau und Tochter und einem Bruder
im Zelt oder im Freien auf den Dörfern, und was er bot, war gutes, altes Handwerk.
Jetzt, im ersten Augenblick, allerdings dachte Marvelli doch daran, wieder umzukehren; nur sein Stolz hielt ihn zurück. Die “Welt-Arena” war nämlich gerade in Brandenburg eingetroffen, und das kleine Vorführzelt war noch nicht da. Da der Wohnwagen aber voll besetzt war, so mußte der Junge, elegante Herr aus Oels wohl oder übel die erste Nacht auf Stroh unter dem Wohnwagen verbringen!
In den nächsten Tagen wurde es dann gemütlicher – und zugleich immer verrückter! Marvelli lernte gründlich, was es heißt, als Artist von der Pike auf zu dienen.

 III
Für den ehemaligen Zögling des Fürstbischöflichen Konvikts zu Breslau war es eine harte Schule, mit den fahrenden Leuten auf die märkischen Dörfer hinauszuziehen! Natürlich war er der junge Mann für alles! Seine eigene Solonummer bestand nur aus zwei Violinstücken, die er den Bauern vorgeigen mußte, und gelegentlich durfte er auch schon etwas zaubern. Vor allem aber hatte er das Orchester darzustellen! Wenn unter der Obhut von Frau Richter und ihrer blonden Tochter Lotte ein Esel, ein Rind, zwei Affen und ein dressierter Hahn auftraten, machte er die Musik: mit der linken Hand drehte er die Kurbel eines Leierkastens, mit der rechten schlug er den Rhythmus auf der Pauke und bediente mit dem Fuß die Becken. Auf dem Höhepunkt des Programms, wenn der alte Richter, der als Artist auf dem Mast arbeitete, seine Darbietung unterbrach, um eine Ansprache an das Publikum zu halten, mußte er mit dem Teller das Geld einsammeln gehen – ganz so, wie es bei den fahrenden Leuten seit Tausenden von Jahren üblich ist. Vor dem Absammeln aber hatte sich Marvelli jedes Mal im Wohnwagen bei Frau Direktor einzufinden. Gegen die Gefahr nämlich, daß der Absammler für sich selbst etwas vom Teller nimmt und verschwinden läßt, hatten die Zigeuner schon in grauer Vorzeit eine ausgezeichnete Vorbeugungsmaßnahme erfunden, an die sich auch Frau Richter hielt. Sie griff in ein Glas und drückte dem jungen Mann fünf lebende Fliegen in die linke Hand. Die mußte er dann zugleich mit dem gefüllten Teller unversehrt wieder abliefern!
Bald hatte sich der junge Zauberkünstler an das Milieu der fahrenden Leute gewöhnt, und der gemütliche Wohnwagen wurde ihm zur zweiten Heimat. Eines Nachmittags, als man wieder einmal beim dampfenden Kaffee um den sauber gedeckten Tisch im Wohnwagen saß, der erste Herbstregen draußen an die Scheiben trommelte und Richters vom einstigen Glanz der “Welt-Arena” erzählten, wurde auch ganz plötzlich sein Artistenname geboren:
“Junge, du mußt endlich einen richtigen Namen haben, wenn du etwas werden willst”, meinte der alte Richter, “wie wär’s mit ... Marvelli?” Niemand im Wohnwagen ahnte damals, daß das jüngste Mitglied des Unternehmens unter diesem Namen weltberühmt werden sollte. Von April bis September 1923 war Marvelli mit der Welt-Arena in der Mark Brandenburg herumgezogen; jetzt hieß es, sich von den Richters trennen, da der kleine Zirkus im Winter nicht arbeiten konnte. Es galt nun, so schnell wie möglich nach hause zu kommen, schnell, denn der schlimmste Hexentanz der Inflation war ausgebrochen. Von Tag zu Tag und bald von Stunde zu Stunde verlor das Geld seinen Wert. Mit den 180 Millionen Mark Gage, die Marvelli stolz in der Brieftasche trug, kam er gerade noch mit der Eisenbahn bis Halle. Der Zug nach Leipzig war bereits überfüllt; Marvelli schaffte es aber doch, sich in einen der geräumigen Wagen vierter Klasse mit hineinzuschmuggeln. Während der Fahrt begann er, vor dem recht gemischten Publikum die Zauberrequisiten aus dem Koffer zu holen und eine kleine Vorstellung zu geben – auf diese Weise bekam er wenigstens das Geld für die Weiterfahrt zusammen!
Da kam nun der ungeratene Sohn von seinem Ausflug in das Artistenleben in das stille Forsthaus seiner Eltern zurück. Was soll nun werden? Diese stumme Frage konnte der Sohn täglich von den Gesichtern seiner Eltern ablesen. Eines war aber ihm klar: niemals würde er zu einem bürgerlichen Beruf zurückkehren. Aber das harte Leben bei der Welt-Arena hatte ihn denn doch so weit ernüchtert, daß bei aller Freude am Zaubern, sein alter Lieblingswunsch wieder stark in den Vordergrund trat: ein Geigenvirtuose zu werden, der alle Welt zum Beifall hinreißt. Bis in die Nacht hinein übte er jetzt auf der Geige: das Paganinikonzert, Sarasates Zigeunerweisen und ähnliche, besonders schwere Virtuosenstücke.
Im Frühjahr 1924 gastierte im Breslauer Konzerthaus einer der größten Geigenvirtuosen jener Zeit: Vasa Prihoda. Auf seinem Programm standen genau die Stücke, mit denen Marvelli die Welt erobern wollte, Selbstverständlich fuhr er nach Breslau, um den großen Geiger zu hören und bekam mit Mühe noch ein Billett für das Konzert. Schon das erste Auftreten des Geigers nahm ihn gefangen: so elegant, so strahlend, so selbstsicher wollte er auch einmal vor dem Publikum stehen. Und Prihodas Spiel war ein begeisterndes, hinreißendes, unvergleichliches musikalisches Erlebnis. Noch Stunden nach dem Konzert irrte Marvelli, die Hände in den Manteltaschen, durch die Straßen Breslaus. Er war zutiefst aufgewühlt. Doch er war nicht mehr beglückt, er war verzweifelt! Er wußte auf einmal genau, daß er niemals diese künstlerische Vollendung auf der Geige erreichen würde. Der Traum vom Violinvirtuosen war ausgeträumt. Und was sollte nun geschehen? In dieser Nacht entschied sich Marvelli ganz und gar für seine eigentliche Begabung: die Zauberei! Auf diesem Gebiet würde er arbeiten, hart und unerbittlich so lange, bis er die Menschen, ähnlich wie Prihoda auf der Geige, durch seine Zauberkunststücke verblüffen, hinreißen, begeistern konnte. Am nächsten Tag mietete er sich ein kleines, billiges Zimmer in Breslau und bat seine Eltern brieflich, ihm seine Sachen zu schicken. Er wollte nicht mehr zurück ins Vaterhaus; hier in Breslau sollte jetzt sein Weg beginnen! Die reiche schlesische Hauptstadt war seit langem ein Dorado für Künstler aller Art. Die Artisten traten meist im Liebich-Theater auf, und wer hier Erfolg hatte, dem war ein Engagement nach Berlin gewiß. Aber es gab auch mehrere kleinere Varietés; bei ihnen suchte Marvelli zunächst anzukommen, Doch er merkte sehr bald, daß man von einem Varietézauberer etwas ganz anderes verlangte als das, was er zu bieten hatte.
 

Die zersägte Assistentin

Nicht der Salonzauberer, der seit einem halben Jahrhundert verschwunden war und der im kleinen Kreis unmittelbar vor dem Publikum gearbeitet hatte, wurde gewünscht, sondern der Illusionszauberer, der Menschen und Gegenstände verschwinden läßt, Jungfrauen zersägt und mit zwar groben, aber ungeheuer wirksamen Tricks auf großer Bühne arbeitet. Ohne Assistentin war ein solcher Zauberer überhaupt nicht zu denken, schon der vielen Requisiten wegen, die ihm zugereicht werden mußten oder die er verschwinden lassen wollte. So borgte sich Marvelli Geld, um den uralten Zaubertrick der “Zersägten Jungfrau” anbieten zu können, annoncierte nach einer Assistentin und ließ den raffiniert angelegten Kasten zimmern, in dem die Jungfrau verschwinden mußte, um zersägt zu werden. Während dieser Vorbereitungen eignete er sich noch allerlei neue Tricks an, lief zu den Agenten und sprang bei den Varietés ein, wenn irgendwo eine Nummer ausfallen mußte. Endlich wurde er von einem größeren Unternehmen engagiert. Die “Zersägte Jungfrau” war groß im Programm angekündigt. Marvelli führte seine Nummer geschickt vor, gewann die ganze Aufmerksamkeit des Publikums, das atemlos zusah, wie er jetzt die Säge ansetzte, um die arme junge Dame zu zerteilen.
In diesem Augenblick – Tücke des Objekts – klappte die Vorderwand des Kastens herunter. Das Publikum sah die “Jungfrau” mit krampfhaft angezogenen Beinen daliegen, während am Ende des Kastens ein Paar künstliche Beine in die Luft ragten und der Zauberer genau an den Fußsohlen der Dame eifrig vorbeisägte. Ein Sturm von Gelächter, noch viel größer als bei seinem ersten unglückseligen Auftreten, brauste zu ihm herauf. Der Vorhang schloß sich eiligst, und er schloß sich auch über dem Illusionszauberer Marvelli. Der empörte Herr Direktor warf ihn eigenhändig aus dem Theater. Doch sonderbarerweise war Marvelli gar nicht so niedergeschlagen, wie man hätte annehmen sollen. Er hatte etwas überaus wichtiges für sein ganzes Leben gelernt: daß das Arbeiten mit vielen Requisiten und mechanischen Täuschungstricks für ihn eine Unmöglichkeit war.
Er ahnte auf einmal den Weg, den er gehen mußte. Doch wie konnte er die Agenten überzeugen?

 IV
Im Herbst 1925 tritt in Breslau ein Zauberkünstler auf, über den die Zeitungen spaltenlang berichten, der wochenlang die große Sensation bedeutet: Carmelini! Der gebürtige Ungar hat einen Namen von Weltruf, hat in allen Hauptstädten Europas Triumphe gefeiert und gilt als einer der elegantesten Täuschungskünstler überhaupt. Das Liebich-Theater ist Abend für Abend ausverkauft. Und nicht nur das große Publikum drängt sich, Carmelini zu sehen, sondern vor allem die große Zahl der Amateurzauberer, darunter berühmte Rechtsanwälte, Ärzte, Hochschullehrer und Bühnenkünstler! Für den jungen, hohlwangigen Menschen, der sich vielleicht am glühendsten danach sehnt, den großen, berühmten Kollegen “zaubern” zu sehen, gibt es zu dieser Zeit nicht einmal die Möglichkeit, auch nur eine billige Eintrittskarte zu kaufen, Er hat kein Engagement, er lebt – ein uralter Begriff für stellungslose Artisten – vom “Ständeln”. Der Ständler sucht sich, gleich den Taschenspielern des Mittelalters, sein Publikum selbst. Nach Feierabend besucht er die kleinen Bierkneipen, behagliche bürgerliche Lokale, in denen es formlos und gemütlich zugeht, stellt sich an einen der kleinen runden Tische oder an die Theke und läßt plötzlich die berühmten vier Bälle erscheinen, einen Kartenfächer aufrauschen oder zaubert ein endloses seidenes Band aus der Weste des neben ihm stehenden Herrn. Für den Ständler kommt alles darauf an, daß er im ersten Augenblick siegt – das heißt, sein Publikum verblüfft und hinreißt, damit es noch mehr sehen will. Gelingt ihm das, kann er sicher sein, daß man ihn einlädt und daß man ihm, wenn er charmant und humorvoll zu fordern versteht, auch etwas auf den hingehaltenen Teller legt. Hier kann er, direkt unter den scharf beobachtenden Augen seiner Zuschauer, ausprobieren, ob er seinen Trick wirklich so durchgefeilt hat, ob er so verblüffend fingergewandt ist, daß keiner den Trick durchschaut, daß es wirklich wie “Zauberei” wirkt! Regnerische Abende – sie sind besonders schlimm für den Ständler. Dann bleiben die meisten lieber gemütlich zu Haus. Die Gasthäuser und Kneipen sind leer, und der Wirt winkt schon ab, wenn Marvelli nur zur Tür hineinkommt. Durchfroren und durchnäßt ist Marvelli gegen elf Uhr nachts schon auf dem Heimweg, als er noch einmal in die alte Weinhandlung Schwarz in der kleinen Groschengasse hineinsieht. Auch hier das gleiche Bild: das Lokal ist leer. Er will schon wieder gehen, aber da winkt ihn der Wirt herbei. In dem kleinen Hinterzimmer sitzt ein älteres Ehepaar auf dem altmodischen Sofa; der Mann trägt einen schwarzen Spitzbart und blickt ihm mit großen, grauen, seltsam spähenden Augen entgegen.
“Nun zeigen Sie mal, was Sie können, Herr Marvelli”, sagt der Wirt und schlägt ihm gutmütig auf die Schulter, “zaubern Sie dem Herrn einmal etwas vor. Es ist Signor Carmelini! Ich hab ihm schon von Ihnen erzählt.”
Marvelli ist im ersten Augenblick bis zur Fassungslosigkeit verblüfft. Aber dann fängt er sich schnell. Er zaubert dem großen Carmelini einen Zigarettentrick vor, der zu den schwierigsten seiner Art gehört, den er seit Monaten geübt hat – und der ihm jetzt, hier in dieser kleinen Stube, so elegant glückt wie noch niemals..
Carmelini hebt ein wenig den Kopf: “Gut – sähr gut”, sagt er in seinem fremdartigen Deutsch. Er greift schnell in die Westentasche und wirft Marvelli ein Fünfmarkstück zu: “Und was werden Sie damit anfangen, junger Mann?”
 

Ein blitzendes Fünfmarkstück ...

Im Nu hat Marvelli das blitzende Geldstück verschwinden lassen, um es gleich darauf unter Herrn Carmelinis Weinglas hervorzuziehen; schon wieder ist es fort und schimmert plötzlich zwischen den Stangen eines der Geweihe an der Wand, kehrt von neuem zurück in die Hand des jungen Zauberers, der es schließlich mit glänzender Virtuosität wieder in Signor Carmelinis Tasche verschwinden läßt.
Der berühmte Zauberer sieht ihn lange schweigend an. Dann sagt er:
“Bin sähr interessiert, von Ihnen mehr zu hören. Bitte schön, seien Sie unser Gast.”
Zum erstenmal spricht Marvelli mit einem der Großen seines Fachs, und es ist ein Gespräch, das stundenlang dauert. Erst spät in der Nacht kommt er heim; in seiner Rocktasche findet er ein Fünfmarkstück, das ihm der große Carmelini wieder hineingezaubert hat. Und noch etwas findet er – ein Kärtchen, durch das Carmelini ihn auffordert, ihn morgen während der Vorstellung in seiner Garderobe zu besuchen. – Dieses kleine Kärtchen – denn von nun an wird er täglich mit dem großen Zauberer zusammen sein, solange Carmelini in Breslau gastiert – wird für ihn zu einem wahren Sesam-öffne-dich in das geheimnisvolle Reich der Zauberei.
Plötzlich fällt es ihm wie Schuppen von den Augen, und er begreift: was er bisher getrieben hat, das waren Taschenspielerkunststücke – nichts als das einfache, grobe ABC der Zauberei. Jetzt zeigt ihm ein Meister, wie man es machen muß – und da wird aus der bloßen “Zauberei” etwas ganz anderes: Magie! Wenn Carmelini auf der Bühne steht, dann geht von ihm eine rätselhafte Gewalt aus. Ein Kartenspiel, das er in die Hand nimmt, eine goldfunkelnde Uhr, die er vorzeigt, ein einfaches Glas mit einer roten Flüssigkeit gefüllt – das alles wirkt schon, bevor die eigentliche Vorführung des Tricks beginnt, wie verzaubert und mit geheimnisvollen Kräften begabt. Das ist es: die Dinge scheinen lebendig zu werden in der Hand des Zauberers, und die Zuschauer haben nur noch den einen Wunsch: zu erleben, welche Abenteuer diese Dinge durchmachen werden, was jetzt für neue, märchenhafte Verwandlungen, geschehen. Der Zauberer wird zum Hexenmeister, der ein Märchenreich beherrscht, voll seltsamer Bälle, Ringe, Tücher, voll geheimnisvoller Becher, Karaffen, plötzlich aufflatternder Tauben und rätselhaft entschwebender riesiger Blumenbuketts. Er schafft eine neue Welt, wie sie so noch nie da war, und die er nach seinem Willen entstehen und vergehen läßt.
 

Der Sprung in den Erfolg

Das ist des große Erlebnis, das der junge Marvelli jetzt allabendlich haben darf: ein Zauberer muß ein Künstler sein! Nicht die Tricks als solche sind wichtig: die meisten von ihnen kann man in jedem Zauberladen kaufen. Wie man sie bringt, und daß man mit ihnen wirklich die Menschen bezaubern kann – das allein ist wichtig! Am Abend vor Carmelinis Abreise sitzen sie beide noch einmal in der Garderobe des Artisten zusammen – der große Star der Täuschungskunst und der Adept ohne Namen, der seinen Weg erst beginnt. Und da zeigt es sich, daß Carmelini sehr wohl weiß, was in dem jungen Mann vorgeht. “Sie haben sähr viel gesehen und sähr viel gelernt, junger Mann”, sagt er leise “Ich weiß es, ich habe Sie beobachtet. Sie können einiges. Ein paar kleine und ein paar große Tricks habe ich Ihnen dazugeschenkt. Jetzt müssen Sie anfangen, etwas daraus zu machen!” Er schweigt einen Augenblick. Plötzlich beugt er sich vor und packt Marvelli an der Schulter; von seinen hellen grauen Augen geht etwas Bezwingendes aus:
“Ich, Carmelini, sage Ihnen jetzt, und vergessen Sie es nie: viele meiner Kollegen in der Welt sind begabte Leute, die sähr viel mehr können als Sie. Aber Sie – Sie sind zum Zaubern geboren! Sie brauchen keine Lehrzeit mehr. Sie müssen anfangen, sofort! Sie müssen dort hingehen, wo Sie keiner kennt, und den Leuten sagen: ich bin Marvelli – ein großer Zauberer! Was ich kann und wie ich es mache, haben Sie noch nie erlebt. Und dann, junger Mann – machen Sie den Leuten auch etwas vor, was die noch nie erlebt haben!” Mit einer seltsamen Feierlichkeit und Eindringlichkeit hat der alte Artist gesprochen.
Und der junge Marvelli sitzt schweigend vor ihm; seine Lippen zittern. Er spürt: Das hier, in dieser kleinen Artistengarderobe, ist der entscheidende Augenblick. Ja, er wird von Breslau fortgehen. Er muß einen großen Sprung wagen – den entscheidenden seines Lebens. –
“Ich bin Marvelli! Was ich kann und wie ich es mache, haben Sie noch nie bei einer Zaubervorführung erlebt!”
Der erste Mann von Einfluß, der diese Worte zu hören bekommt, ist der sehr elegante Direktor des international bekannten Hotels “Zur Post” in Garmisch. Er sieht sich diesen mit faszinierender Sicherheit auftretenden jungen Herrn einen Augenblick lang an – dann gibt er die Zustimmung, daß Marvelli abends im Kursaal vor den Gästen zaubert.
Das ist ein anderes Publikum als im Varietétheater: diese etwas gelangweilten, verwöhnten, reichen Männer und Frauen der guten Gesellschaft. Und es ist ein ganz anderes Programm, als während des kurzen Auftritts innerhalb einer Schau. Eine volle Stunde lang zaubert Marvelli auf einem kleinen Podium, dicht vor all diesen Fräcken und Abendkleidern.

 V
Die Herrschaften hatten nicht viel mehr als eine nette kleine Abwechslung in der Langeweile des Kuralltags erwartet. Doch es wurde ein Sensationserfolg! Damen und Herren drängten sich um den jungen Zauberer, der sie aufgefordert hatte, ihn recht genau bei seinen Tricks zu beobachten. Sie flehten ihn förmlich an, doch noch einmal den Trick mit den drei Ringen zu wiederholen oder den mit den grünen, verknoteten Tüchern, deren Knoten in der zusammengepreßten Hand der Versuchsperson auf eine rätselhafte Art zerschmolzen! Es gab entzücktes Gelächter bei der gefälligen Konversation, die Marvelli da unablässig während des Zauberns trieb, so, als habe er sich nie auf einem anderen Parkett bewegt!
Ganz Garmisch sprach nach dieser Vorstellung von dem neuen Mann.
Die Telefone auf den Schreibtischen der Hoteldirektoren klingelten noch spät in der Nacht: einer erzählte dem anderen von dem unerwartet großen Erfolg eines Zauberers namens Marvelli, für den das Hotel “Zur Post” auf den dringenden Wunsch seiner Gäste bereits zwei neue Zauberabende angesetzt hatte. Dringende Anfragen kamen in den nächsten Tagen nacheinander von Wiessee, von Oberstdorf, von Reichenhall und Berchtesgaden, Schliersee, Bad Tölz und ganz unerwartet Bad Kissingen meldeten sich, garantierten freie Fahrt, Unterkunft und ein recht annehmbares Honorar. Ein junger Artist, der vor noch knapp einem dreiviertel Jahr oft nicht wußte, wie er sich des Abendbrot erzaubern sollte, muß sich jetzt einen Terminkalender aufstellen. Marvelli behält in all diesem Trubel einen klaren Kopf. Er weiß – Je anspruchsvoller sein Publikum wird, desto mehr muß er bieten. Die “Schwebende Kugel”, ein Trick, an dem er schon lange arbeitet – jetzt endlich gelingt er ihm nach zahllosen Übungsstunden. In Kissingen kann er, kaum einen Monat später, gleich zwei neue Tricks vorführen, darunter schon den Zigarettenfang, der, bis zur Vollendung ausgebaut, ihm später einmal den Magischen Ring auf dem Weltkongreß der Zauberer einbringen wird. Aber Beifall, Geld und Lob der Presse genügen ihm noch nicht. Nach acht Monaten rauschender Erfolge zieht er sich plötzlich zurück – nach Garmisch, ohne vorläufig ein weiteres Engagement anzunehmen. Ihm ist bewußt geworden, was ihm noch fehlt.
 

Neue Höhepunkte

Noch ist sein Programm nur eine lose Folge von Nummern. Was er bei Carmelini so bewundert hat, das muß ihm jetzt auch gelingen – ein Programm aufzubauen, das sich immer mehr steigert, immer neue Höhepunkte erreicht. Und auf einmal weiß er, was seinem Programm die letzte Geschlossenheit geben könnte: Musik ... Musik! Von Kindheit an hat er sie geliebt. Jetzt kauft er ein Grammophon. Zu sorgfältig ausgesuchten Tonwerken von Tschaikowski, Rossini, Richard Strauss und Borodin studiert er seine Tricks neu vor dem Spiegel, so, daß es nun erscheint, als gehorchten Bälle, Karten, Ringe und Kugeln nicht mehr seinen Händen allein, sondern als fügten sie sich rätselhaft dem Rhythmus der Musik. Er stellt Programmnummern um, feilt unablässig ... Bei seinem ersten Wiederauftreten ist der große Saal im “Hotel zur Post” in Garmisch überfüllt; weit über zweihundert Besucher müssen auf den nächsten Abend vertröstet werden. Als Marvelli eine Stunde vor der Vorstellung im Hotel erscheint, gratuliert ihm niemand eifriger als der hünenhafte Portier des Hauses, der sich anstellt, als habe er den Zauberkünstler höchstpersönlich entdeckt. Noch vor einem Jahr hat er den jungen Artisten aus Breslau, der da bei der berühmten “Post” ankam und so ohne weiteres den Direktor sprechen wollte, mit einer echt bayerischen Grobheit davongewiesen; “Saubatzi, damischer, mach, daß dich fortscherst!” Heute ... Schneefernerhaus – das ist die nächste und wichtige Station der Karriere Marvellis. Noch nie hat das vornehme Hotel unterhalb der Zuggipfelspitze, einen Artisten oder gar einen Zauberkünstler eingeladen. Nach der Vorführung bezeichnen all diese amerikanischen Nabobs, die großen deutschen Industriekaufleute mit ihrem Anhang, Millionenerbinnen, Filmschauspieler und elegante Abenteurer Marvellis Programm als einzigartig. Man spricht tagelang nur von Zaubern und Zauberkunststücken; Marvelli wird um Nachhilfestunden im Zaubern bestürmt! Wenige Tage später kommt ein Anruf aus Bad Nauheim. Von seinen Freunden hat der amerikanische Zeitungskönig Hearst, der alljährlich mit seiner Freundin, der schlanken, blonden Filmschauspielerin Marion Davis, einen Kuraufenthalt in Bad Nauheim verbringt, von Marvelli gehört. Er läßt ihn eigens zu einer erlesenen Privatgesellschaft nach Nauheim kommen. Bei dieser Gesellschaft, in einem kleinen, mit dicken Perserteppichen ausgelegten Salon, in dem Marvelli unmittelbar vor den prüfenden Augen seiner Zuschauer zaubern muß, hat er einen seiner besten Tage. Die anfängliche Kühle, die da von diesen arrivierten Leuten ausströmt, die für ihr Geld etwas geboten haben wollen, bringt er fast augenblicklich zum Schmelzen.
 

Von Garmisch nach Palermo

Und als er fühlt, daß er auch dieses schwierige Publikum ganz gewonnen hat und in seinem Bann hält, da wagt er einen Clou. Er weiß es – aber er riskiert ihn! Kurz vor Ende der Vorstellung richtet er zuerst an Miss Davis und dann an Mr. Hearst persönlich die etwas merkwürdig anmutende Frage, wie spät es eigentlich sei. Beide blicken ihn erstaunt an und sehen dann auf ihre Armbanduhren. Die Uhren sind nicht mehr da! Die anderen Herren, die in der ersten Reihe sitzen, wollen gleichfalls auf ihre Uhren blicken – sie sind verschwunden. Da plötzlich zaubert Marvelli die Uhren aus den Taschen seines Fracks und schnallt Hearsts Uhr von seinem eigenen Handgelenk ab.
Der Beifall ist stürmisch. Der Zeitungskönig erhebt sich etwas mühsam aus seinem Sessel und kommt auf Marvelli zu: “Wie haben Sie das fertiggebracht? Sie waren ja doch nur einen Augenblick lang bei mir – hier als Sie die Karten aus meiner Tasche gezogen haben! Jedenfalls – ich habe während Ihrer Vorstellung mein Rheuma und meine Schmerzen vergessen. Was sind Sie wert, Mr. Marvelli?” “Heute Abend tausend Dollar”, sagt Marvelli in liebenswürdiger Laune und lächelt dabei.
Eine halbe Stunde später überreicht ihm draußen auf der Weinterrasse des Hotels der Sekretär Mr. Hearsts ein geschlossenes Kuvert. Marvelli öffnet es später – es sind tausend Dollar darin! Von seinen Einnahmen kauft er sich jetzt in Garmisch ein Haus – doch des Wichtigste darin ist für ihn nicht der Salon, sondern ein Raum, den niemand außer ihm betreten darf: ein Laboratorium, das genau nach seinen Angaben eingerichtet wird. Dort beginnt er zu experimentieren, studiert Chemie- und Physikbücher und versucht, neue Zaubertricks mit Hilfe der modernen Wissenschaft aufzubauen. Wie sehr ihm das gelingen soll, wird sich erst einige Jahre später zeigen. Aber nachdem nun seine Existenz fürs erste gesichert ist, gönnt er sich wenigstens die Erfüllung eines dringenden Herzenswunsches, der von Kindheit an in ihm lebt: er will reisen, will die weite Welt sehen. Er will nach dem Süden, nach dessen Wärme und lichter Heiterkeit er sich von jeher gesehnt hat. Und da reizt es diesen seltsamen Mann, wieder einmal ganz von vorn anzufangen. Er könnte eine Luxusreise durch Italien machen, die Schönheiten genießen, wo und wie lange er will. Statt dessen kauft er sich einen kleinen Wagen und fährt ganz allein über den Brenner; nur sein großer Zauberkoffer begleitet ihn. Er, den noch kein Agent im Ausland bekanntgemacht hat, will jetzt, ohne ein Wort italienisch zu sprechen, in einem fremden Land durch seine Kunst ein neues Publikum erobern!
Als fahrender Artist will er sich noch einmal durchsetzen, obwohl er von seinen Kollegen weiß, daß das italienische Publikum in seiner blasierten und kritischen Art bei allen Artisten gefürchtet ist.
In Mailand parkt Marvelli sein Wägelchen auf dem Domplatz, sieht sich erst einmal die Stadt an und geht dann auf die Suche nach einem Agenten. In einem Kellervarieté, das den glanzvollen Namen “Teatro Apollo” trägt, darf er schließlich seine Bilder zeigen und etwas vorzaubern. Man findet ihn nicht ganz schlecht und gibt ihm versuchsweise einen Vertrag für fünfzehn Tage. Er wird für eine kleine Bühnenschau verpflichtet, die, wie es damals üblich ist, in den Filmtheatern vor dem Ablauf des Hauptfilms angesetzt ist.
Und da, während er in Mailand, dann in Turin und schließlich in den kleinen Städten Sardiniens seine Tricks vorführt, merkt er, wie recht die Kollegen mit der Beurteilung des italienischen Publikums hatten. Es ist überaus mißtrauisch, oft ablehnend, vor allem, da er seine Zuschauer nicht in ihrer Sprache anzusprechen vermag. Wieder einmal geht Marvelli in eine harte Schule: hier kann nur die einmalige Leistung überzeugen. Und sie überzeugt schließlich so sehr, daß er das Bühnenprogramm ganz allein bestreitet. In Rom wird man schon auf ihn aufmerksam, und in Sizilien schließlich erringt er den großen Erfolg.
In Palermo wird er zu einer Privatzaubersoiree in den uralten Palast eines Marchese gebeten – und er gewinnt die Gesellschaft von Palermo mit seinem neuesten Trick “Der verschwundene Trauring” im Sturm. Es handelt sich um ein Zauberkunststück, das er hier zum ersten Male vor einem Publikum ausprobiert und dem wir bald darauf in Berlin, und zwar im Beethovensaal, wiederbegegnen werden!

 VI
Draußen geht die Sonne unter. Hier in dem hohen, düsteren Saal des sizilianischen Schlosses ist es angenehm kühl. Der Marchese M. hat für diesen Nachmittag den gesamten Adel Palermos eingeladen.
In der ersten Sesselreihe hat eine bildhübsche junge Marchesa Platz genommen, die sich ganz besonders von den Künsten des deutschen Zauberers begeistert zeigt. Marvelli hat sie sich in stillen bereits als Versuchsperson für seinen neuen Trick ausersehen; er weiß nicht, daß sie erst seit kurzem verheiratet ist und daß ihr etwas steifer Gatte zu den eifersüchtigsten Männern Siziliens gehört. Der Herr Marchese erblaßt bereits, als Marvelli der jungen Frau liebenswürdig-scherzhaft ihren Trauring für sein Experiment abfordert.
Marvelli bittet einen jungen Conte als Versuchsperson zu sich, drückt ihm den Ring in die Hand und läßt ihn die Hand fest schließen. In seinem noch etwas ungelenken Italienisch erklärt Marvelli dem Publikum, daß nicht er, sondern die Versuchsperson jetzt zaubern und mit diesem Ring etwas ganz Neues vorführen würde. Er bittet den Herrn, den Trauring der Marchesa doch vorher noch einmal herumzuzeigen. Der elegante Conte, der sich zu diesem Versuch hergegeben hat, öffnet die Hand. Der Ring ist verschwunden!
Marvelli zeigt ein so ehrliches Erstaunen, daß der Gatte der Marchesa bereits unruhig wird. Er wünscht, daß der Ring sofort wieder erscheint! Marvelli beruhigt ihn: “Geduld – Geduld.” Die Versuchsperson sei ja schon erblaßt vor Aufregung und würde sicher alles tun, um den Ring irgendwie herbeizuholen. Noch während er spricht, streift Marvelli an dem kleinen Zaubertischchen vorbei, das er dicht vor dem Publikum aufgebaut hat, und nimmt mit leichter Hand ein verschnürtes Kästchen mit sich, das er nun der tatsächlich etwas erregten Versuchsperson überreicht.
“Eine kleine Medizin, Signore, ein beruhigendes Salz. Ich nehme es auch immer in solchen Fällen, wenn mir etwas schief geht. Versuchen Sie doch davon!
Marvelli sagt diese Worte so gewinnend und überzeugend, daß der Conte sich tatsächlich daran macht, die Umschnürung zu lösen und das Kästchen zu öffnen. Aber er findet kein beruhigendes Salz – er findet in dem Kästchen ein zweites Kästchen, und als er das heraushebt, noch ein drittes und ein viertes. Auf dem Boden des vierten aber liegt die Hülle eines kleinen, gelben Luftballons.
Eine atemlose Spannung liegt über der Gesellschaft, als der Conte jetzt auf Wunsch Marvellis den Luftballon aufbläst und alle deutlich in dem immer größer werdenden Ballon einen kleinen Gegenstand erkennen. Marvelli bittet den Conte, zu der jungen Marchesa zu gehen; die Dame möchte doch mit ihrer Zigarette den Ballon berühren. So geschieht es – gibt einen Knall, und ein Ring klirrt vor der Marchesa auf den Boden. Sie hebt ihn auf, und an der Gravierung an der Innenseite erkennt sie, daß es tatsächlich ihr Ring ist. Brausender Beifall, während der Gatte aufatmet. In der Nacht wird ein anonymer Brief ins Hotel gebracht, in dem man ihm den Rat gibt, schleunigst aus Palermo zu verschwinden! Dafür wird er auf der Rückreise in Rom aufgefordert, eine Privatvorstellung am Königshof zu geben. Ein Gastspiel in Venedig beschließt diese erste italienische Tournee, auf der er sich bei den Italienern den Titel eines Paganini der Zauberkunst erwirbt. Sein nächstes Ziel heißt Berlin. Als die weithin bekannte Konzertdirektion Adler in Berlin den Brief eines Zauberkünstlers namens Marvelli bekam, der von ihnen den Beethoven-Saal für zehn Abende mieten wollte, glaubten die Herren zunächst, das Schreiben eines Irren vor sich zu haben. Der Beethoven-Saal, in dem die größten Pianisten, Geiger, Sänger und Dirigenten Deutschlands und Europas ihre Abende gaben, und ein Artist, der den Leuten da etwas vorzaubern wollte – das ließ sich ja nun wirklich nicht miteinander vereinbaren! Eine Art Varietékünstler an dieser Stätte musikalischer Tradition!
 

Und endlich: Berlin!

Doch der sonderbare Herr Marvelli ließ nicht locker: die kühle Absage der Konzertdirektion Adler schien er nicht ernst zu nehmen. Er verhandelte von neuem und erreichte schließlich, daß man ihm den Beethoven-Saal für einen Abend anbot, wenn er alle Unkosten der Saalmiete in Höhe von 1500,– Mark vorher hinterlegte. Man nahm nicht an, daß Herr Marvelli darauf eingehen würde. Aber Marvelli bestellte daraufhin den Saal für drei Abende und hinterlegte die gesamte Kaution. Das Abenteuer Berlin wurde für Marvelli zu einem glanzvollen Sieg: in einer Wintersaison gab er im Beethovensaal allein 26 Vorstellungen und hatte damit den größten Teil der freien Abende belegt. Man ging zu Marvelli wie man sonst zu Furtwängler, zu Gründgens oder zur Cebotari ging.

Wie für so viele Künstler und Artisten war Berlin auch für ihn zu dem entscheidenden Prüfstein und zu der Stätte des Durchbruchs geworden. Von jetzt an bemühten sich die großen Agenturen um ihm: der Weg zu Bühnengastspielen in Stockholm Paris, Madrid und Wien war frei! In der Kufsteiner Straße schlug Marvelli sein neues Quartier auf: hier richtete er auch sein Laboratorium ein, das nach wie vor niemand betreten durfte. Und wie die großen Virtuosen des Klaviers oder der Geige jeden Tag ihre Übungsstunden absolvieren müssen, so arbeitete auch Marvelli jede Nacht bis gegen drei oder vier Uhr. Als in München unter brausendem Beifall die von der Jury auserwählten zehn besten Zauberer der Welt zu Beginn der Festvorstellung auf der Bühne erschienen, wurde als Nummer zwei Alfredo Marvelli vorgestellt. Es war den meisten Teilnehmern dieses Treffens klar, daß Nummer zwei alle Chancen hatte, bereits im nächsten Jahr Nummer eins zu werden!
Für den gefeierten Wiener Ehrengast bei dieser Vorstellung, den in allen Ländern der Erde bekannten und verehrten Altmeister der klassischen Zauberkunst, Ottokar Fischer, hatte Marvelli eine besondere Überraschung vorbereitet.
Von der Bühne herab überreicht er dem in der ersten Reihe sitzenden alten Herrn eine elegante Briefmappe. Als Fischer sie öffnet, findet er lediglich ein weißes Blatt, auf dem ein großer Kreis eingezeichnet ist; er wird gebeten, in diesen Kreis seinen Namen zu setzen. Marvelli nimmt die Mappe wieder zurück und legt sie auf sein Zaubertischchen - dann holt er ein Kartenspiel hervor. Er läßt den Meister verdeckt eine Karte ziehen, bittet ihn, die Karte seinem Nachbarn zu zeigen und dann fest an seine Stirn zu pressen. Lächelnd und willig fügt sich der alte Zauberer den Anordnungen seines jungen Kollegen.
 

Zauberwasser – Kartensprudel!

Da erklärt Marvelli auch schon das Experiment für beendet und reicht Fischer die Mappe zurück. Und nun ist auch der Altmeister der Zauberkunst verblüfft und hingerissen. Denn in dem zuvor leeren Kreis findet er jetzt eine Fotografie seines Kopfes, und auf der Stirn, fotografisch einmontiert, eine Spielkarte: die Pik 10. Es ist die gleiche Karte, die Fischer soeben aus dem Kartenspiel verdeckt gezogen hatte!

Bei Marvellis triumphalem Gastspiel in Wien treffen die beiden Männer einander wieder; Fischer ist jeden Abend in der Vorstellung. Er beobachtet diesen jungen Kollegen ungewöhnlich scharf und kommt nun zu einem Entschluß, der für Marvelli von größter Tragweite sein soll. Ottokar Fischer ist es, der das streng geheim gehaltene Erbe des großen Wiener Zauberkünstlers Hofzinser verwaltet. Noch nie ist es jemandem gelungen, die großen Tricks dieses gefeierten genialen Zauberers nachzuahmen. Das Geheimnis ist nur mündlich durch einen Schüler Hofzinsers an Fischer weitergegeben worden. Und der Altmeister, der längst von der Bühne abgetreten ist, beschließt, dieses großartige Erbe an Marvelli zu übergeben. Und so geschieht es. Nächtelang sitzen der alte und der junge Zauberer in dem altmodisch eingerichteten Salon Fischers beieinander. Das sind große Stunden für Marvelli – das, was ihm hier gezeigt wird, ist einzigartig. Und zugleich tritt er an als Erbe Hofzinsers in die große, alte Tradition der Zauberer und Magier ein. Jetzt wird er zum Herrn über den “schwebenden Stab”, über den großen Kartensprudel und über das Zauberwasser, das er innerhalb einer Minute in einer locker gedrehten Tüte vor aller Augen verschwinden läßt. Wie immer, ehe Marvelli neue Tricks vorführt, geht eine lange Zeit stiller und zäher Arbeit voraus. Sie wird nur unterbrochen durch die große Südamerikatournee, die er 1936 unternimmt. Auf der Monte Rosa fährt er hinunter zur Amazonasmündung und nach Rio de Janeiro.

VII
Als die schneeweiße Monte Rose angesichts des urwaldbedeckten Zuckerhutgipfels in die weltberühmte schöne Bucht von Rio de Janeiro einfährt, ist in der Stadt schon längst bekannt, daß ein deutscher Zauberer an Bord ist. Motorboote brausen heran – Journalisten klettern über das Fallreep hinauf, und Marvelli erlebt zum ersten Male in einem fremden Erdteil einen ganz großen Empfang durch die Presse.
Vier Stunden später findet er schon sein Bild in der Zeitung! Mit brasilianischer Gastfreundlichkeit zeigt man ihm die Copacabana, den ältesten Badestrand der Erde. Die berühmte Allee aus weißstämmigen Königspalmen im Botanischen Garten, das faszinierende Nachtleben der Millionenstadt. Im Deutschen Club, der Praia Flamengo, gibt er dann mehrere, bis auf den letzten Platz ausverkaufte Gastspiele. Aber so begeistert man ihn in Rio, in Bahia und in Para-Belem umjubelte – hier in Südamerika gab Marvelli die einzige Vorstellung seiner gesamten letzten Tourneen, die ihm keinen Beifall einbrachte. Und zwar vor wilden Indianern im Amazonasgebiet! Als er begann, den Indianerkindern blinkende Geldstücke aus Mund, Nasen und Ohren zu ziehen wurde die Haltung der Dorfbevölkerung so drohend, daß sich Marvelli mit dem schweizer Gummihändler, der ihn begleitet hatte, schleunigst entfernen mußte. Dafür war sein Kunststück, bei einem Urwaldspaziergang seinen Begleitern Zigaretten von einer der vielen herabhängenden Lianen zu pflücken, ein großer Erfolg. Die einfachen Gummisammler sperrten Mund und Nase auf – sie schlugen mit ihren Buschmessern reihenweise die Lianen herunter in der Hoffnung, auf diese Weise auch Zigaretten zu ernten. Es war eine von Marvellis vielen Eulenspiegeleien, von denen seine Freunde immer wieder zu berichten wissen. Nach Deutschland zurückgekehrt, gewann er auf dem nächsten Weltkongreß der Zauberer zum ersten mal den Magischen Ring, die größte Auszeichnung, die auf diesen Kongressen vergeben werden kann. Im Jahr darauf in Frankfurt am Main gewann Marvelli ihn zum zweitenmal, vor vierhundert der besten Zauberer – ein einzig dastehender Fall in der Geschichte der Zauberei. Er hatte um 1938 all das erreicht, was er sich in seinen kühnsten Träumen erhofft hatte: volle Säle, jubelnden Beifall, Auslandsreisen, Spitzengagen, von denen er, der einst Geigenvirtuose werden wollte, sich nun eine kostbare Stradivari kaufen konnte. Noch mehr: die neidlose Anerkennung der Fachleute und Kollegen und das immer wieder berauschende Gefühl einer vollendeten Sicherheit, selbst bei seinen gewagtesten Tricks!
 

Es wird gefährlich ...

Und doch wuchsen jetzt die ersten bedrohlichen Schatten empor, die sehr bald auch sein Leben verdunkeln sollten. Nach der Besetzung Österreichs durch Hitler hatte Marvelli erleben müssen, daß man seinen verehrten Lehrer und Freund Ottokar Fischer ächtete und aus dem Magischen Zirkel ausstieß. Ein Großdeutscher Magischer Zirkel war organisiert und zu einem leeren Betrieb geworden, den man an die Reichstheaterkammer angeschlossen hatte. Im Dritten Reich sollten auch die Zauberer strammstehen und mußten mit erhobenem Arm ihren Präsidenten grüßen!
Marvelli, dem jeder Zwang von Jugend auf verhaßt war, zog sich zurück, wo es nur irgend möglich war. Er dachte auch gar nicht daran, sich den Verkehr mit nicht-arischen oder dem Regime mißliebigen Freunden verbieten zu lassen. So war er schon 1939, kurz nach Kriegsausbruch, bei den leitenden Männern in Ungnade gefallen. Man wagte noch nicht, gegen ihn etwas zu unternehmen; seine Popularität war zu groß und die Zahl seiner Freunde und Bewunderer reichte bis hinauf in die Spitzen der Ministerien.
Doch dann, im Herbst 1942, fand man endlich einen Grund, ihn zu belangen. In einem aufgefangenen Brief an einen Münchener Kollegen las man eine Bemerkung über die politische Lage, aus der man schließen konnte, daß Marvelli den englischen Sender abgehört hatte. Er wurde sofort von höherer Stelle zur Verantwortung gezogen. Zunächst sperrte man ihm die Berufserlaubnis und befahl ihm, sich vorläufig in Berlin zur Verfügung zu halten. Natürlich wußte Marvelli, was ihm nun bevorstand. Er wandte sich sofort an einige seiner einflußreichen Freunde. Die erklärten, daß er eine Anklage nicht riskieren und keinen Tag länger in Berlin bleiben dürfe. Sie schickten ihn zum Luftwaffenstab. Noch am gleichen Abend wurde er dort für einen Sondereinsatz “Truppenbetreuung” nach Athen und Nordafrika bestimmt; am nächsten Morgen um 6 Uhr war er bereits mit einem Flugzeug auf dem Weg nach dem Süden. Die Gestapo kam genau 24 Stunden zu spät in die Kufsteiner Straße.
 

Zaubern bei 40 Grad Hitze

Casablanca und einige andere Städte Nordafrikas hatte Marvelli bereits auf der Rückreise von seiner Südamerika-Tournee kennengelernt und in Casablanca damals sogar mit einem arabischen Kollegen in einem Bazar, zum größten Vergnügen des Straßenpublikums, um die Wette gezaubert. Jetzt lernte er ein anderes Afrika kennen. Den Schauplatz bestimmten die strategischen Operationen der Rommel-Armee: gleißende Wüste, Oasendörfer mit würdevollen, selbstbewußten Einwohnern und immer wieder die Zeltquartiere der Stäbe und die schnell improvisierten Unterkünfte der Truppenteile. Meist im Freien unter brennender Sonne gab Marvelli seine Vorstellungen, und der “Konzertsaal”, in dem er vor Rommel und seinen Offizieren auftrat, war ein düsterer, niedriger Eselstall in Bardia.
Da ihm die Hitze schlimm zusetzte, hatte sich Marvelli sehr bald einen arabischen Burnus beschafft. Aus Bequemlichkeit hatte er sich überdies einen Spitzbart stehen lassen. Als ihn einer der Stabsoffiziere eines Tages so traf, meinte er: “Marvelli, Sie sehen fast wie ein Araber aus! Wissen Sie was? Ich habe einen sehr schwierigen Auftrag. Ich muß von einem dieser zurückhaltenden Stämme hier frisches Fleisch beschaffen, mindestens hundert Hammel. Wollen Sie nicht mitkommen und auf die Scheichs mit ihren Zauberkünsten Eindruck machen? Vielleicht geht’s dann besser!” Noch heute erzählt Marvelli mit besonderem Vergnügen von dieser diplomatischen Aktion. Die arabischen Scheichs, die in einem Wüstental ihre Zelte aufgeschlagen hatten, empfingen die kleine deutsche Delegation mit großer Würde und Zurückhaltung. Es ging alles sehr zeremoniös zu; fast eine halbe Stunde lang mußten die Offiziere und Marvelli mit untergeschlagenen Beinen schweigend auf dem Boden hocken und den grünen Begrüßungstee trinken, der dreimal herumging, ehe man ins Gespräch kam. Jetzt war Marvelli an der Reihe. Liebenswürdig lächelnd führte er den streng und unbewegt dreinblickenden Scheichs einige seiner schönsten Tricks vor: die verknoteten Tücher, einen Ringtrick, die großen Kartenfächer ...
Und da plötzlich war der Bann gebrochen. Der Anführer verlangte, daß der große weiße Zauberer ihm nun auch aus der Hand weissagen solle! Marvelli betrachtete die Innenfläche der ihm dargebotenen Hand sehr lange und kritisch, bis er schließlich dem Scheich außerordentlich Erfreuliches und Beglückendes für sein ferneres Leben verkünden konnte!
Das Geschäft nach dieser kleinen Szene war schnell getätigt; die Delegation konnte über zweihundert Hammel ins Lager treiben lassen.
Es kam der Rückzug in Nordafrika, und Marvelli war einer der letzten, die noch ausgeflogen wurden. Nach einigen Zwischenaufenthalten in Athen und auf dem Balkan tauchte er in Berlin unter in der Hoffnung, daß sich die Gestapo nicht mehr um ihn kümmern würde.
Aber darin hatte er sich geirrt. Sie waren sehr bald auf seiner Spur, und er mußte zum zweitenmal aus Berlin flüchten. Diesmal ging er nach Prag und fand dort bei einem Zauberkollegen Aufnahme, der ihn gut verborgen hielt.
In Prag erlebte Marvelli das Kriegsende, und hier wurde er auch von den russischen Truppen aus seinem Versteck geholt. Er trug nichts mit sich außer einem Pappkarton mit ein paar Zauberrequisiten; dann verschwand er für lange Zeit in einem der großen Gefangenenlager.

 VIII
“Du ... Fokusnik vormachen! Vorzaubern!” Zum Glück hatte Marvelli seine Kartenspiele dabei, und wenn er die Zierfächer vorführte oder den großen Kartensprudel, dann war auf einmal eine ganz andere Stimmung in dem kahlen Kommandanturraum. Er mußte Vorstellungen in den Kasernen geben, und schließlich brachte er auf diese Weise eines der größten Zauberkunststücke seines Lebens zustande: sich einen Passierschein in die Freiheit – zunächst nach Dresden und dann nach Berlin – zu “erzaubern”! Es war für Marvelli wie ein Wunder, als er in Berlin auf dem Bahnhof Friedrichstraße aus dem Zug stieg. Stundenlang wanderte er durch die Trümmer nach der Kufsteiner Straße. Das Haus, in dem er gewohnt hatte, stand noch, kaum versehrt! Und seine Wohnung, zwar zunächst beschlagnahmt, war erhalten – vor allem das für ihn so unschätzbar wichtige Laboratorium. Trotz all der tausend Nöte und Schwierigkeiten des Nachkriegsalltags im Berlin von 1945 zögerte Marvelli keinen Tag, an den Aufbau einer neuen Karriere zu gehen. Jetzt kam ihm zugute, daß er, im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, keine großen Bühnen oder umfangreiche Zauberapparaturen gebrauchte. In jedem kleinen Saal, in jeder Schulaula konnte er auftreten; sein notwendiges Handwerkszeug hatte er schnell wieder beisammen. Am schwierigsten war es für den großen Zauberer, sich einen neuen Frack zu beschaffen – es dauerte viele Monate, bis er endlich wieder im altgewohnten “Kostüm” erscheinen konnte. Jede freie Stunde verwandte Marvelli für die Arbeit in seinem Laboratorium. Er wußte genau: neue, große Erfolge waren auf die Dauer nur durch neue, große Tricks zu gewinnen. Wieder einmal baute er sein Programm um, fügte neue Nummern ein und probierte unablässig an einem großen Trick, der zum unübertroffenen Zauberkunststück seines Lebens werden sollte. Es hatte lange gedauert, Unsummen gekostet, bis allein die ersten Experimente geglückt waren. Inzwischen meldete sich auch wieder die weite Welt außerhalb Deutschlands. Bereits 1946 brachte die Fachzeitschrift der amerikanischen Zauberer “The Sphinx” in New York einen ausführlichen Bericht über Marvelli. Der Kulturfilm, der 1947 mit Marvelli gedreht wurde und seine schönsten und schwierigsten Tricks zeigte, löste in Paris, London und New York helle Begeisterung aus. – Die ersten Einladungen aus dem Ausland kamen. Doch er ließ sich von seiner Arbeit zunächst nicht ablenken. Eines Tages lud er eine Reihe von Berliner Journalisten in seine Wohnung ein; sie sollten den großen Seiltrick zuerst erleben. So mancher Berliner Pressemann wird sich noch an den Sonntagnachmittag in Marvellis Wohnung in der Kufsteiner Straße erinnern. Einer von ihnen berichtete damals: “Nachdem uns Marvelli in seinem Wohnzimmer eine kleine Privatvorstellung gegeben hatte, dicht vor unseren Augen, lud er uns in sein Laboratorium ein – seine technische ,Zauberküche‘. Hier blitzte und blinkte es von seltsamen Instrumenten; es gab eine Fülle von Spezialapparaten, Schaltern, Lampen und Hebeln, Koffern aus gehämmertem Leichtmetall, Aufnahmeapparaten ... Das alles bewies uns, mit welchem wissenschaftlichen Ernst dieser Täuschungskünstler arbeitete ... Und jetzt klingt Musik auf; magische Klänge, faszinierend in ihrer Monotonie und Dumpfheit. ,Ich möchte Ihnen gern mein neuestes Zauberkunststück vorführen: das Schlangenseil.‘
Auf einem kleinen Tischchen, locker hingeworfen, liegt ein naturfarbenes Stück Strick, ein Seil. Und wäre es nicht stillos für diese Umgebung, so könnte man es als ein Stück Wäscheleine bezeichnen. Wir lassen das Seil durch unsere Hände gleiten und stellen fest: ein Strick wie tausend andere, ohne jegliche Spur von Besonderheit.
Marvelli geht auf das Tischchen zu. Sein Blick wird zwingend, bezwingend! Und nun – er hebt die Hände über diesem Stückchen Tau, das locker daliegt auf einer kleinen, mit schwarzem Samt bedeckten Platte. Das Seil beginnt zu leben: es zuckt – bewegt sich. Die Windungen lösen sich. Schlangenhaft beginnt es zu kriechen. Das Seil erhebt sich, bewegt sich ruckartig wie ein Schlangenkopf. Steil richtet es sich auf. Die ganze Schlange – wie sollte man es sonst nennen? – wiegt sich zum Klang der dumpfen Musik im Tanz unheimlich echt und eindrucksvoll!
Marvelli läßt die Hände sinken, das Seil rollt sich gehorsam wieder zusammen. Die Musik verklingt ...
Wir sitzen unbeweglich. Aber während wir von dem Erlebnis noch ganz befangen sind, zerreißt Marvelli selbst den Zauber: er reicht uns die kleine, lose Tischplatte mit der erstarrten Schlange hinüber – und was wir jetzt sehen und greifen ist nichts als jenes tote Stückchen Seil ...”
In den Kursälen der großen deutschen Badeorte hatte Marvellis erste Karriere begonnen – hier begann auch seine zweite Karriere. Gastspiele in fast allen größeren Städten Westdeutschlands schlossen sich unmittelbar an. Das unerhört dichte, faszinierende Programm, begleitet von dem liebenswürdig-weltmännischen und doch so genau auf den Trick und auf das Publikum berechnete Geplauder Marvellis, die Musik, die den leicht und vollendet hingespielten Täuschungskünsten die letzte Eleganz gab, und als Gipfelpunkt der große Seiltrick – das alles begeisterte von neuem Zehntausende von Zuschauern. Kollegen urteilten, daß Marvelli überhaupt erst jetzt seine reifste und höchste Form gefunden habe.
Um eine solche Form aber zu gewinnen und – zu erhalten, muß jeder Artist persönliche Opfer bringen!
 

Unterwegs nach Nordafrika!

Marvelli hatte sich seinen alten Wunsch, als freier Artist durch die Welt zu fahren, im Jahre 1950 auf eine ganz neue Weise erfüllen können: er hatte sich einen komfortablen Wohnwagen bauen lassen, der ihn unabhängig von allen Hotels und Eisenbahnlinien machte und ihm die Möglichkeit gab, in der geliebten Natur an einsamen Stellen zu zelten, mit seinem Faltboot ganze Tage auf einem Fluß zu verbringen ... Doch das war auch die einzige Ausspannung, die er sich gönnte. Abend für Abend mußte er für die Vorstellung frisch sein; Nacht für Nacht viele Übungsstunden vor dem Spiegel vollbringen – einem Artisten von seinem Rang durfte ja niemals ein Trick mißlingen! Für ihn gab es keine rauschenden Feste nach einer Vorstellung, keine Alkoholexzesse, keine sorglosen Abenteuer mit Frauen ... Manchmal nahm er befreundete Kollegen oder Amateurzauberer auf seinen Reisen mit. Zu seinen täglichen Begleitern aber gehörten der Igel All, der ihm aus der Hand fraß, die blau- schwarze Dohle Jenny, die, auf seiner Schulter sitzend, ihn auch auf stundenlangen Spaziergängen begleitete und ihm nach den Mahlzeiten die Zigarette aus der Packung rupfte, und, schließlich der Chow-Chow Ruffy, der allnächtlich seine Runden um diese seltsame fahrbare Zaubererwohnung machte und jeden verbellte, der sich näherte.
1952 lockte ein Auslandsengagement: Zaubervorstellungen in Marokko und eine Einladung des Sultans von Marrakesch! Nach einem großen Münchener Gastspiel, im Herbst, rollte der Wohnwagen über den Brenner nach Italien hinein und längs der Riviera hinüber nach Spanien. Die erste Station war Barcelona; hier wollte Marvelli einmal Weihnachtsferien im Süden machen. Mitten in der Stadt bot man ihm einen geeigneten Platz für seine fahrbare Wohnung an. Dann ging Marvelli auf seinen ersten Bummel über die berühmten Ramblas von Barcelona. An den Weihnachtstagen darf auf keinem Tisch in Barcelona der traditionelle Putenbraten fehlen. Tausende von lebenden Truthühnern werden schon Tage vorher zum Verkauf an einer Stelle zusammengebracht. Als Marvelli von diesem ersten Ferienbummel nach vielen Stunden zu seinem Wohnwagen zurückkehrte, drängelten sich auf dem vorher so schönen, freien Platz nahezu viertausend Truthühner, kreischend, flatternd und kollernd. Es war ein Abenteuer für ihn, bis zum Wohnwagen zu gelangen, der mitsamt dem Anhänger von den Tieren schon völlig verschmutzt war! Und da riß Marvelli vor den Truthühnern aus und fuhr noch am gleichen Abend nach Süden in Richtung Valencia weiter. Er konnte nicht ahnen, wie sehr dieser skurrile Zwischenfall für ihn von schicksalhafter Bedeutung werden sollte! Denn auf diese Weise suchte er sich sein spanisches Ferienquartier nicht in der vielgerühmten Umgebung von Barcelona, sondern südlich von Valencia.

Und da traf er auf einmal auf eine weitgeschwungene Bucht, deren schöner, reiner Sandstrand sich bis zum nächsten Kap hinüberdehnte, er fand ein kleines, spanisches Städtchen voller Romantik und vor allem hier, angesichts der rostroten Berge und des indigoblauen südlichen Meeres, eine wundervolle Einsamkeit. Anscheinend hatte noch kein Reisender die Bucht von Benidorm entdeckt.
Über eine Woche lang schlug Marvelli sein Campingzelt unter Palmen am Strand auf. Hier gab es keinen nordischen Winter, die Sonne wärmte noch, wie bei uns im September. Es gibt Landschaften, die uns auf den ersten Blick tief vertraut sind und die man sich zur Heimat wünscht. Dieses Erlebnis hatte Marvelli zum ersten Mal hier in der Bucht von Benidorm. Nur mit Mühe riß er sich los, um seinen Auftrittstermin in Marokko wahrzunehmen. Und er versprach den Spaniern, die da täglich seinen Wohnwagen bewunderten und ihn besonders herzlich aufgenommen und eingeladen hatten, auf jeden Fall auf der Rückreise wieder vorbeizukommen. Für ein paar Tage nur!

IX
Zauber-Soiree im maurischen Palast des Sultans von Marrakesch! Die hohen Würdenträger waren geladen und kauerten in ihren weißen Burnussen auf kostbaren Kissen neben dem Sultan. Hinter einer mit reichen Schnitzereien bedeckten Gitterwand, an einer Längsseite des Saales, warteten die tiefverschleierten Haremsdamen Seiner Hoheit voll Neugier auf den Anfang der Vorstellung. Der Saal mit seinen weitbogigen Fensteröffnungen, der kostbaren Täfelung der Wände, den leuchtenden Teppichen hatte etwas von der Atmosphäre aus Tausendundeiner Nacht. Marvelli selbst erzählt, daß ihm das Zaubern noch nie so viel Spaß gemacht habe und nie so “magisch” vorgekommen sei wie hier in dieser märchenhaft anmutenden Umgebung.
Äußerlich völlig unbewegt, mit der Ruhe und Würde, die Marvelli schon in Casablanca und später bei den Araberscheichs im Zelt erlebt hatte, verfolgten der Sultan und seine Gäste die Darbietungen. Erst beim schwebenden Stab hörte man ein leises Murmeln der Bewunderung. Angesichts der großen Kartenfächer rauschte der erste Beifall auf! Und dann, als Marvelli das lebende Seil vorführte, war der Bann gebrochen; immer wieder mußte er diesen Trick zeigen. Jetzt wurde auch vom Sultan der französische Dolmetscher für zahllose Fragen eingeschaltet. Ein Hofmarschall mit weißem Fez und in goldbestickter Uniform überreichte anschließend in einer kostbaren Lederkassette dem Magier aus dem Norden ein Geschenk des Sultans, das der märchenhaften Umgebung entsprach. Marrakesch war eine neue Verlockung für Marvelli! Warum sollte er nicht mit seinen einzigartigen Tricks jetzt einmal die Welt des Orients bereisen, über Kairo und Bagdad, nach Teheran und hinunter nach Indien fahren? Hieß das nicht neues Abenteuer, neues Publikum, eine neue Möglichkeit des Zauberns und Bezauberns?
Aber da drängten schon wieder die Termine für Mannheim, Hamburg, München und für zahlreiche Kurorte Deutschlands. Und da war vor allem die Einladung der neugewonnenen spanischen Freunde nach Benidorm und seiner wundervollen, weiten Bucht, deren Anblick ihn so beglückt und so seltsam heimatlich berührt hatte ...
So kehrte er denn an der Schwelle von Tausendundeiner Nacht um und fuhr nach Spanien zurück. Knappe 14 Tage nach dem Auftritt im Sultanspalast von Marrakesch hatte er sein Campingzelt wieder unter den Palmen von Benidorm aufgeschlagen.
 

Er muß sich entscheiden

Während seines ersten Aufenthaltes in dem kleinen Küstenort hatte Marvelli mit seiner Linhof-Kamera zahlreiche Aufnahmen von der schönen Landschaft und von den südlich-romantischen Gassen Benidorms gemacht. Jetzt hatte er die Muße, sie zu entwickeln.
Die fertigen Fotografien riefen bei seinen spanischen Bekannten einen Sturm des Entzückens hervor. Der Bürgermeister von Benidorm sah auf einmal eine ganz neue Möglichkeit der Werbung für den kleinen, verträumten Badeort. Und plötzlich, beim abendlichen Menzanilla im Wohnzelt, machte er Marvelli ganz unerwartet den Vorschlag, sich doch in Benidorm anzukaufen, immer neue Fotos von Strand, Bergen und Bucht zu machen, Postkarten drucken zu lassen, selbst ein Hotel zu bauen, ganz hier zu bleiben ...
Marvelli wehrte lächelnd ab. Aber dann, als er am nächsten Vormittag auf einem Felsvorsprung in der Sonne saß, über das Meer hinblickte und den Zauber dieser weltverlorenen Bucht auf sich wirken ließ, gingen auf einmal ganz andere Gedanken durch seinen Kopf. Er mußte an Carmelini denken, den großen Zauberer, der einst in Breslau ihm, dem damals noch unbekannten jungen Anfänger, den Mut zum entscheidenden Start gegeben hatte. Wo war Carmelini jetzt? Marvelli hatte ihn 1939 in Würzburg einmal wiedergetroffen. Aber der Name des einmal Weltberühmten hatte nur winzig klein auf einem Plakat gestanden, und aus dem großen Carmelini war ein alternder Artist geworden, der mühsam um seine Engagements kämpfen mußte. Wo blieben sie alle, die Großen der Artistik, wenn sie es nicht verstanden, rechtzeitig abzutreten? Sie sanken von der Höhe auf die zweite und dann auf eine dritte Stufe herab. Hände und Gehirn gehorchten nicht mehr wie früher; schließlich hatten sie sich selbst überlebt ... War es nicht doch besser, auf der Höhe des Könnens mit einem Lächeln zu verschwinden, einen großen Namen zu hinterlassen und freiwillig in das Dunkel zurückzutauchen? Und wie, wenn die stille Zuflucht, die man dann aufsuchte, vielleicht Benidorm hieße, diese Bucht hier unter südlicher Sonne, die ihm, vielleicht zum erstenmal im Leben, eine völlige Entspannung und ein ruhiges Glücksgefühl geschenkt hatte? Es war eine völlig überraschende Frage, vor die ihn das Schicksal da so plötzlich stellte. Unmöglich, sofort eine Entscheidung zu treffen! Doch als Marvelli von Benidorm wieder nach Norden fuhr, hatte er immerhin, nahe einem Palmenhain am breiten Sandstrand der Bucht, ein kleines Grundstück gekauft! – Während der neuen Tournee wurde Marvelli vor allem in München und Berlin von zahllosen Leuten aus allen Berufen besucht, die unbedingt Zauberlehrling werden wollten. Es war nicht ganz leicht, sich all dieser “Schüler” zu erwehren, die da für hohes Honorar möglichst schnell einen von Marvellis Tricks erlernen wollten, um dann in der Gesellschaft von Freunden und Bekannten damit zu glänzen. So gerne sich auch Marvelli mit Amateuren unterhielt, für diese Liebhaber der magischen Kunst hatte er wenig Sinn. Eben, weil sie nicht wußten, daß Zaubern eine artistische Leistung, eine echte Kunst ist – die Kunst nämlich, den Trick auf eine einmalige Art und Weise vorzuführen.
Eine der interessantesten Begegnungen mit Amateur-Zauberern aber hatte Marvelli in Hamburg. Da kam ein junger Mann zu ihm ins Hotel Metro, der ihn bat, einmal ein paar Tricks vorführen zu dürfen. Es waren Tricks der klassischen Zauberschule, wie sie jeder Artist beherrschen muß. Doch Marvelli spürte da auf einmal etwas Persönliches in der Art des Vortrags, eine Eleganz, die nur noch nicht ihre letzte Form gefunden hatte, und vor allem die seltene Gabe, leicht und spielerisch zu täuschen – zu zaubern!
 

Letztes Auftreten

Eine volle Stunde lang sah sich Marvelli an, was der junge Mann ihm zu bieten hatte; dann verabredete er sich mit ihm für die folgende Woche. An diesem Abend machte Marvelli einen langen, nachdenklichen Spaziergang durch Hamburgs Straßen bis hinüber zu den Landebrücken. Er erinnerte sich: so und nicht anders hatte er damals in der Garderobe bei Carmelini gesessen. Vielleicht gab ihm das Schicksal einen Wink – vielleicht war dieser junge Mann ein würdiger Nachfolger, dem man die kostbaren und schwer erarbeiteten Tricks anvertrauen konnte. Sie saßen in den kommenden Wochen viel beieinander, der alte und der junge Zauberer. Zum erstenmal in seinem Leben hatte Marvelli einen Schüler, dem er das Geheimnis des verschwundenen Rings und schließlich sogar das des schwebenden Stabes anvertraute. Er hatte sich nicht geirrt – hier war eine echte Begabung! Und da plötzlich entschloß er sich, Lebenswerk und Namen an den Jüngeren abzugeben. Für einen Herbsttag setzte er in Wildbad seine Abschiedsvorstellung an. Wie seltsam, nach einer fast 30jährigen, von Beifall umrauschten Laufbahn zum letztenmal auf der Bühne zu stehen! Das Publikum im großen Kursaal von Wildbad ahnte nichts davon, daß hier einer der größten Zauberer der Gegenwart seinen Abschied nahm. Wie immer war es hingerissen, von dem verblüffenden Zigarettenfang, den einzigartigen Kartenzierspielen, dem Wunder des lebenden Seils! Großer Schlußbeifall! – und immer wieder mußte Marvelli auf die Bühne. Dann erloschen die Lichter, der Saal wurde dunkel, die Bühne blieb leer zurück.
Als Marvelli das Kurhaus verließ, trat ihm der alte Hausverwalter entgegen; sie kannten sich beide seit 1925.
“Ich will Ihnen doch wenigstens adieu sagen, Herr Marvelli. Ich kann es mir nicht vorstellen, daß Sie nie wieder da oben auf der Bühne stehen werden. Und es wird wohl auch kein anderer mehr da oben stehen ...” Es war ein Augenblick, in dem es auch Marvelli die Kehle zuschnürte. “Lassen Sie nur”, sagte er zu dem alten Mann und preßte ihm die Hand. “Alles hat seine Zeit! Und eines habe ich beim Zaubern gelernt, und ich habe es meinem Publikum nicht nur so leichthin immer wieder gesagt: Alles – alles im Leben ist Illusion!” Dann ging er ins Dunkel hinaus auf einen langen Nachtspaziergang. – Heute steht dicht am Strand von Benidorm ein kleines gepflegtes Hotel im Stil einer maurischen Villa, weiß leuchtend, Reiseziel für viele Freunde und Bekannte Marvellis. Hier machen auch die Kollegen vom Theater und vom Film Station, wenn sie durch Spanien reisen; hier, nur ein paar Meter vom Meer entfernt, erholt sich wochenlang so mancher prominente Gast. Und Marvelli ist heute ein liebenswürdiger Gastgeber, der seinen Hobbies nachgeht: dem Fotografieren vor allem, in einer Landschaft, die unerschöpfliche Motive bietet, und – dem Unterwassertauchen in der fischreichen, kristallklaren Bucht von Benidorm.
Abends aber, wenn die Gäste nach einem langen Sonnentag auf der Terrasse oder im Gesellschaftsraum am Kamin sitzen, dann geschieht es immer wieder, daß in Marvelli der alte Eulenspiegel und Bezauberer erwacht. Dann zeigt er seinen Gästen mit unveränderter Virtuosität im engsten Kreis die Tricks, mit denen er einst alle Welt entzückte. Aber dann auf einmal legt er Becher, Bälle und Karten zurück, wann und wie es ihm gefällt. – Es ist alles nur noch Spiel und Spaß für ihn.
Und eines kann der Mann von sich sagen, dessen letztes Zauberkunststück dieses kleine Schlößchen im spanischen Süden war: hier in der Natur hat er das gefunden, was er sich während einer langen und ruhmreichen Karriere als Artist in strenger Selbstzucht versagen mußte; das echte persönliche Glück!

ENDE
 

rechtlicher Hinweis:
Dieser Artikel wurde zu Lebzeiten Fredo Marvellis als Serie in der "Berliner Zeitung" und der "Hannoverschen Zeitung" abgedruckt. Der Inhaber der Urheberrechte liess sich trotz Nachforschungen nicht mehr ermitteln. Wir gehen bis auf Widerruf davon aus, dass die Veröffentlichung im Sinne des Autors
ist und bedanken uns auf diesem Wege!